ES WAR EINMAL IN WIEN
Ein urbanes Märchen
Armut spielt eine zentrale Rolle in der Geschichte von Hänsel und Gretel. Im Märchen drastischer als im Libretto: Die Brüder Grimm schildern eine erbarmungslose Armut, fern jeder Romantik, durch deren Zwänge die Eltern die Härte besitzen, ihre Kinder auszusetzen. Adelheid Wettes insgesamt milderes Libretto streicht dagegen vor allem den unerträglichen Hunger der Besenbinder-Familie hervor: Die Eltern der Oper wollen ihre Kinder nicht explizit aussetzen, die Mutter schickt sie hier „nur“ in den Wald, um Erdbeeren zu sammeln.
Wir haben in unserer Inszenierung aus dem Besenbinder einen hausierenden Staubsaugervertreter mit einem kleinen Ladenlager gemacht. Dieser Beruf trifft eine Aussage über die sozialen Status der Eltern, der all zu oft auch über die soziale Zukunft der Kinder entscheidet; denn wohlhabend wird der Vater mit diesem Business niemals werden können. Ob er seinem rechtschaffenen Leitspruch „Wenn die Not aufs Höchste steigt – wird’s Gott schon richten“ selbst Glauben schenkt? Vermutlich ist er dafür zu hemdsärmelig veranlagt. In unserer Lesart verlässt er sich lieber auf sich selbst – und plant, die gegenüberliegende Bank auszurauben.
Der Vertrauensverlust der Kinder in ihre Eltern ist ein weiterer elementarer Konflikt unseres Märchens. Zu Ganoven geworden, verschweigen die Eltern ihren Kindern, was sie planen. Dabei spielt sich der Coup genau unter deren Augen ab: hinter dem Regal im Lager des Ladens befindet sich der Zugang zum Tunnel, der unter der Straße hindurch in die Bank führen soll. Schicksalhaft verknüpft mit dem Ruf des räuberischen Kuckucks, kommen die Kinder dem Geheimnis der Eltern zufällig auf die Schliche: Sie klettern durch das verbotene Loch in der Wand in einen Tunnel und tasten durch das Dunkel in eine Ihnen noch unbekannte Welt.
Gretel hätte die Entdeckung dieses Weges ins Ungewisse lieber nicht gemacht. Hänsel hingegen ist nicht aufzuhalten, sobald er den Zugang entdeckt hat. Für den einen ist die Übertretung eine Schleuse in eine andere, möglicherweise bessere Welt – für die andere ist es eine Bedrohung. Indem die Kinder in den Tunnel steigen, entfernen sie sich vom Kind-Sein und beginnen selbstbestimmt ihren eigenen Weg der Erkenntnis zu gehen.
Christiane Lutz